Geburt einer Nation

 

Jörg-Uwe Albig

 

Selten ist eine Revolution aus nichtigerem Anlass entstanden. Die Kolonialmacht fordert bescheidene Steuern, auf Tee etwa. Doch die Kaufleute Neuenglands, die Händler New Yorks und die Plantagenbarone des Südens sehen darin einen Angriff auf ihre wichtigsten Errungenschaften: Eigentum und Freiheit. Zwischen 1775 und 1783 erkämpfen sie die Unabhängigkeit. Ihr Anführer ist ein pedantischer Landmann: George Washington. Er kommandiert ihre Armee, etwa bei der Überquerung des eisigen Delaware 1776. Und wird zum ersten Präsidenten der neuen Nation gewählt.

 

 

Mit 27 Jahren "im Ruhestand", doch endlich am Ziel. "Meine landwirtschaftlichen Vorhaben und ländlichen Vergnügungen", schreibt George Washington einem Freund, "passen ideal zu meinem Temperament."

 

Um ihn herum blüht die Schöpfung. Virginia ist in 150 Jahren Arbeit zur southern belle geworden: Hier strotzen nicht nur die Austern vor Fett, werden die Waldbeeren viermal so dick wie in Europa - hier wächst auch der beste Tabak der Welt.

 

Doch Washington ist ein Buchhalter, ein Mann der Kontrolle. Er ist kein Plauderer, seine Pockennarben verdeckt er mit Puder. Die riesigen Augenhöhlen, Hände und Füße, die massige Nase und die schweren Hüften verleihen seiner 1,88 Meter hohen Gestalt "martialische Würde", wie ein Zeitgenosse schreibt, aber wenig Liebreiz.

 

Nach mehreren amourösen Niederlagen hat er schließlich eine reiche, stille, ein wenig plumpe Witwe geheiratet, die etwa 6000 Hektar und 150 Sklaven mit in die Ehe brachte.

 

Er liebt Pferde und Zahlen, Listen und Kolonnen. In seiner Schublade liegen noch immer die 110 Anstandsregeln, die er als Kind einmal abgeschrieben hat. "Besser allein als in schlechter Gesellschaft"; "Sitz nicht, wenn andere stehen"; "Argumentiere nicht mit deinen Vorgesetzten".

 

Als er mit 16 Jahren als Gehilfe eines Landvermessers gen Westen zog, hat er seinem Tagebuch nicht die Schönheit der Wildnis anvertraut ("Keine besonderen Vorkommnisse"), sondern seitenlang technische Daten: Nicht schwelgen will er in der Natur; er will sie beherrschen. Seine Aufgabe war und ist es, Grenzen zu ziehen.

 

Vier Jahre lang hat er im Dienst der britischen Krone gegen Indianer und Franzosen um die Vorherrschaft an der frontier gekämpft, der Grenze zur westlichen Wildnis. Als Oberstleutnant der virginischen Miliz hat er zum ersten Mal den "reizenden Ton" pfeifender Kugeln gehört, hat am gescheiterten Feldzug zur Ohio-Gabelung teilgenommen und an der ruhmlosen Einnahme von Fort Duquesne. Sein sehnlicher Wunsch aber, Offizier Seiner Majestät zu werden, um dem "besten aller Könige" seine Liebe und Loyalität" zu beweisen, ist unerfüllt geblieben. So baut er jetzt auf seinem Landgut Mount Vernon Tabak, Kartoffeln, Obst und Getreide an.

 

England, das Mutterland, hat ihn enttäuscht. Die Geschichte geht ihn nichts mehr an. Ins Tagebuch notiert er nur noch Klagen über betrügerische Nachbarn und unvorteilhafte Schweinekäufe. Murrt allenfalls über die sinkenden Preise, die das Mutterland für seinen Tabak zahlt.

 

England verlangt ja nicht viel von seinen amerikanischen Kolonien: ein Handelsmonopol auf Tabak, Zucker, Baumwolle, Indigo und Farbhölzer sowie einen Markt für seine Waren - ein Viertel seiner Exporte geht nach Nordamerika.

 

Im 17. Jahrhundert, als Bürgerkriege die Insel verheerten, hat London die Pioniere jenseits des Atlantik ein wenig aus den Augen verloren. Jetzt stehen die Besitzungen fast auf eigenen Beinen - und ähneln der Mutter stärker als jemals zuvor. Auch in den Kolonien wird das Land nun knapper und enger, sammelt sich Reichtum an wenigen Orten, in wenigen Familien. Wächst auf den Herrenhäusern des Südens ein neuer Adel heran, der eifrig Sitten und Bräuche der britischen Landaristokratie imitiert.

 

Doch kaum ist der Krieg gegen Franzosen und Indianer überstanden, zieht Mutter England, nach Jahrzehnten der "wohltätigen Vernachlässigung", die Zügel straff.

 

Denn nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, als sich die Franzosen aus Kanada und Louisiana östlich des Mississippi zurückziehen und die mit ihnen verbündeten Spanier Florida verlassen, kann nur noch die britische Regierung selbst den Expansionsdrang der Kolonisten hemmen: 1763 verbietet sie, zum Schutz der eben noch bekämpften Ureinwohner, die Besiedlung westlich der Appalachen - und vereitelt so auch George Washingtons Pläne, seiner "Mississippi Company" die Ebenen am größten Strom des Kontinents zu unterwerfen.

 

Die Kolonisten murren - und kümmern sich wenig um das Verbot. Doch 1764 untersagt die gestrenge Mutter den Kolonien, eigenes Papiergeld auszugeben - ein Sakrileg, geeignet, wie Washington findet, "das ganze Land in Flammen" zu setzen. Als England zudem 1765 eine "Stempelsteuer" auf Dokumente wie Zeitungen und Broschüren, Spielkarten und Testamente erlässt und 1767 mit den "Townshend Duties" auch noch Tee, Glas, Blei, Farben und Papier belastet, erhebt sich Unmut in der Bevölkerung.

 

Mit einem Mal ist alles vergessen, was das Mutterland für seine Kinder getan hat. Vergessen die mehr als 122 Millionen Pfund, mit denen sich England während des Krieges bis an den Rand des Ruins verschuldet hat - nicht zuletzt, um seine Amerikaner zu schützen. Vergessen die 200 000 Pfund, die es immer noch jährlich zur Sicherung seiner Kolonien in Amerika ausgibt.

 

"No taxation without representation" fordern die Kolonisten, keine Besteuerung ohne Vertretung im Parlament - obwohl vermutlich kaum einer von ihnen nach London reisen will, um im Unterhaus über Bergbau in Wales abzustimmen. Obwohl den 85 Prozent der männlichen Briten, die im Mutterland ganz selbstverständlich ohne Wahlrecht leben, das Begehren nach representation vorkommen muss wie der Rechtsanspruch eines Tagelöhners auf eine Ehrenloge in Ascot.

 

Selten, so scheint es, hat eine Revolution aus so nichtigen Gründen begonnen: Die Menschen mit dem höchsten Lebensstandard der Welt lehnen sich gegen einen Staat auf, der nur seine Kosten hereinholen will.

 

Doch "Liberty and Property", der Wahlspruch der virginischen Parlamentarier, ist nicht nur ein Slogan, sondern eine heilige Gleichung. Eigentum ist Freiheit und Freiheit Eigentum. Besitz ist für den Puritaner ein Zeichen göttlicher Gnade - und für den Liberalen ein Ausdruck politischer Kompetenz.

 

"Der Grund, aus dem die Menschen in eine Gesellschaft eintreten, ist die Erhaltung ihres Eigentums", hat der Philosoph John Locke Ende des 17. Jahrhunderts geschrieben: Wer kein Eigentum hat, ist somit auch nicht fähig, in der Gesellschaft mitzureden. Die politischen Rechte gelten auch in den Kolonien ausschließlich für die Besitzenden. Zwar dürfen - anders als im Mutterland - mehr als die Hälfte der männlichen Einwohner wählen. Die eigentliche Macht liegt jedoch in den Händen einer Elite, die in Virginia beispielsweise höchstens fünf Prozent der weißen Bevölkerung ausmacht.

 

Washington gehört zu dieser Elite. 1758 ist er ins "House of Burgesses" gewählt worden, Virginias Parlament. Er ist dort ein stiller Gast, der sich vornehmlich für die Belange seines Wahlkreises, seiner Plantage und seiner Ländereien interessiert. So zeigt er auch wenig Anteilnahme, als die Abgeordneten 1765 die "Virginia Resolves" beschließen. Sie stellen fest, dass den Virginiern gleiche Rechte zustünden wie den Briten - und dass sie wie Briten das Recht hätten, ihre Steuern selbst festzusetzen.

 

George Washington ist an dem Beschluss nicht beteiligt. Er misstraut dem "spekulativen Lager der Kolonisten", die ihre Grundsätze aus philosophischen Büchern schöpfen und von Jean-Jacques Rousseau ("Zurück zur Natur") lernen wollen. Seine Lektüre konzentriert sich auf Werke wie "Ein neues System der Agrikultur oder ein schneller Weg zum Reichtum". Und die Natur betet ein Landmann wie Washington nicht an - er macht sie sich nutzbar. Keine Umwertung der Werte schwebt ihm vor, sondern die Rückkehr zu den guten, bewährten, ewigen Regeln.

 

Doch auch er hat gelernt, Müttern zu misstrauen. Seine leibliche Mutter, die nach dem frühen Tod seines Vaters die Herrschaft übernahm, ist eine bittere, zänkische Witwe, vor der selbst seine Spielkameraden Angst hatten. Sie hat Washingtons Matrosenkarriere verhindert und seine Soldatenlaufbahn gehemmt. Nie hat er gewagt, ihr zu widersprechen. Dafür hat sie ihm ein Taschenmesser geschenkt mit der Ermahnung "Immer gehorchen!" Noch als General trägt er es bei sich.

 

Draußen im Land bricht der Ungehorsam sich Bahn. Der Zorn der Elite hat endgültig auch die niederen Klassen erfasst, die nichts haben als ihre Fäuste. In New York demoliert der Mob Kutschen britischer Beamter, vernichtet Stempelpapiere, hängt Puppen von Steuereintreibern auf und zündet Büros an.

 

In Boston drohen die radikalen "Sons of Liberty" jeden zu teeren und zu federn, der einen britischen Offizier zum Essen einlädt. Sie plündern Häuser und dreschen auf Mitbürger ein, die sie der Kollaboration mit den Briten verdächtigen. "Liberty and property!" johlen sie, bevor sie ein Haus verwüsten.

 

Am 5. März 1770 bewirft eine wütende Menge einen Trupp britischer Rotröcke mit Schneebällen, Eisklumpen und stinkenden Austernschalen; die Soldaten, auch mit Stöcken und Steinen angegriffen, feuern panisch ihre Musketen ab und töten fünf Zivilisten.

 

Erschrocken lenkt Mutter England ein und schafft die Abgaben auf Glas, Blei, Farben und Papier ab (die Stempelsteuer hat London schon 1766 zurückgenommen).

 

Einzig die Teesteuer lässt sie in Kraft: Nur noch symbolisch will sie sich der finanziellen Loyalität ihrer Kinder versichern. Auch 1773, als sie den Teeimport dem Monopol der "East India Company" unterstellt, wird der Tee nicht teurer, sondern billiger. Ohne Umweg über den englischen Zwischenhandel dringt die Ware jetzt direkt nach Amerika.

 

Doch die Kolonisten sind misstrauisch geworden. Der billige Tee aus Indien gefährdet nicht nur die Einkünfte aus dem Schmuggel niederländischer Ware, sondern könnte allmählich Amerika an die Gängelung durch England gewöhnen - und "uns und unsere Nachkommen für immer ägyptischen Sklavenhaltern ausliefern", wie ein Bostoner Abgeordneter am 16. Dezember 1773 bei einer Bürgerversammlung vor 8000 Zuhörern warnt.

 

Am selben Abend entern rund 50 "Freiheitssöhne" in Indianerkostüm und Kriegsbemalung die Schiffe "Dartmouth", "Beaver" und "Eleanor" und werfen 342 Teekisten ins Bostoner Hafenbecken. "Ich hoffe", ruft einer von ihnen, "König Georg mag Salz in seinem Tee."

 

Die Maskerade ist nicht nur Tarnung, sondern Programm - ein Manifest gegen die dekadenten Teeschlürfer und für die Naturburschen an der frontier. Denn Albion ist nicht nur perfide, sondern verkommen. Immer wieder haben die Rebellen den Vergleich mit dem müden, schlaffen Rom der Spätzeit bemüht: Wie im sterbenden Imperium der Antike sind auch in England "Luxus, Verzärtelung und Käuflichkeit auf einer schockierenden Stufe angelangt", ekelt sich ihr Wortführer John Adams.

 

Das gute Leben ist der Feind der Freiheit - und das alte Europa schon damals ein beneideter, verachteter Kontinent. Eine Mutter zwar, doch zugleich, wie der spätere Finanzminister Alexander Hamilton schreibt, ein "altes, faltiges, verwittertes, verlebtes Weib".

 

Eines aber haben Briten in London und Massachusetts noch immer gemein: Property ist ihnen heilig. Im Mutterland fordert die "Boston Tea Party", Zerstörung von Eigentum im Wert von 10 000 Pfund, eine wütende Reaktion heraus. Die Briten schließen den Bostoner Hafen bis zur Entschädigung des Verlusts, ordnen an, dass fortan der König die Räte der Kolonie Massachusetts bestimmen wird und der Gouverneur zukünftig Richter, Sheriffs und Geschworene ernennt und notfalls ganze Gerichtsverfahren nach England verlegen lässt.

 

Anfang September 1774 reist Washington zum "Ersten Kontinentalkongress" nach Philadelphia, zu dem die Kolonisten von Massachusetts geladen haben, um die Solidarität des restlichen Amerika einzufordern. Der Kongress soll über gemeinsame Maßnahmen gegen die Briten beraten - und über das eigene Selbstverständnis.